Predigt: Markus 14,53+61-64


PFARRER ANDREAS OTTO



Gegenstände der Passion: „Das zerrissene Kleid“ (Markus 14, 53+61-64)

53) Und sie führten Jesus zu dem Hohenpriester; und es versammelten sich alle Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten. [...]
61) Da fragte ihn der Hohepriester [...] und sprach zu Jesus: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?
62) Jesus aber sprach: Ich bin's; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels.
63) Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und sprach: Was bedürfen wir weiterer Zeugen?
64) Ihr habt die Gotteslästerung gehört. Was meint ihr? Sie aber verurteilten ihn alle, dass er des Todes schuldig sei.


Liebe Passionsgemeinde!

Zerrissene oder kaputte Kleidungsstücke sind bei uns in der Regel etwas, was wir nicht besonders schön finden, weil sie Arbeit machen, Ärger hervorrufen oder kaum noch zu gebrauchen sind: Das Kind, das beim Spielen hinfällt und sich das Knie aufschlägt, sorgt für Arbeit, weil die Hose wieder geflickt werden muss.

Die Strumpfhose, bei der kurz vor dem lang ersehnten Theaterbesuch eine Laufmasche festgestellt wird, sorgt für Ärger, weil man sie nun wegschmeißen kann.

Und die Jeanshose, die vorher noch für den Geburtstagsbesuch bei der Tante gut genug war, wird, nachdem sie beim Bücken eingerissen ist, höchstens noch im Sommer für die Gartenarbeit genutzt. Wenn etwas reißt oder kaputt geht, sind das meistens unangenehme und ärgerliche Momente, die man gerne vermeiden möchte.

Umso erstaunlicher ist es, dass in unserem Abschnitt der Passionsgeschichte der Hohepriester seine Kleider mit voller Absicht zerreißt. Er schäumt geradezu vor Wut und macht seinem Ärger Luft, indem er seine Kleider kaputt macht. Und das als Hoherpriester!

Das, was Markus hier berichtet, ist schon dramatisch genug. Allerdings wird diese Dramatik noch verschärft, wenn man bedenkt, welche Bedeutung die Kleidung des Hohenpriesters hatte: Im 2. Buch Mose ist den Kleidern des Hohenpriesters (dort wird er nur „Priester“ genannt) sogar ein ganzes Kapitel (28) gewidmet.

Sie bestand aus dem Amtsschild, dem Leibrock, einem Obergewand, dem leinenen Untergewand mit Würfelmustern, dem Turban und einem Gürtel.

Am Saum des Obergewands, einem ärmellosen Kleidungsstück, hingen abwechselnd Granatäpfel und goldene Schellen oder Glöckchen. Diese Granatäpfel am Saum waren kleine Kugeln aus verschiedenfarbigem Purpur. Sie hatten die Bestimmung, den Hohenpriester auf die Gebote aufmerksam zu machen, die er halten musste. Außerdem sollten sie ihn daran erinnern, dass er beim großen Versöhnungstag, wenn er das Sühnopfer für die Sünde des ganzen Volkes erbrachte und in das Allerheiligste des Tempels gehen durfte, nur dann ohne Lebensgefahr vor Gott war, wenn er sich vollständig nach Gottes Vorschrift kleidete.

Und auch sonst unterlag er sehr strengen Vorschriften: Die üblichen Trauergebräuche, wie das Entblößen des Hauptes und Zerreißen der Kleider, was normalerweise den anderen Priestern erlaubt war, war ihm strengstens verboten.
Wir merken, wie wichtig und genau diese Kleiderordnung war. Sie war etwas Hochheiliges und der Hohepriester selbst stand unter besonders strengen Forderungen kultischer Reinheit. Und noch einmal: Das Zerreißen der Kleider war ihm verboten!

Und Markus berichtet: Der Hohepriester fragte Jesus und sprach: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin's; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels. Da zerriss der Hohepriester seine Kleider.

Jesus bezeichnet sich als Sohn des Hochgelobten, als Menschensohn. Und indem er das tut und zwei Schriftstellen auf sich bezieht, sagt er Kaiphas, dass er (Jesus) derjenige ist, der in Gottes Vollmacht das letzte Gericht halten und dabei auch über seinen jetzigen Richter Kaiphas das letzte Urteil sprechen wird. Mit diesem Bekenntnis setzt sich Jesus an die Stelle Gottes und erfüllt für die Zuhörenden den Tatbestand der Gotteslästerung, auf die die Todesstrafe steht.

Deshalb hat sich der Hohepriester Kaiphas nicht mehr unter Kontrolle. Er setzt sich über alle Vorschriften hinweg und zeigt im Zerreißen der heiligen Kleider seinen ganzen Zorn, seine ganze Wut und seine ganze Empörung. Gotteslästerung auf die übelste Weise – das war es für den Hohenpriester. Vorschriften hin oder her.

Doch bevor ich mit dem Finger auf Kaiphas zeigt, frage ich mich: Wie hätte ich damals reagiert? Wie hätten wir damals reagiert, liebe Passionsgemeinde, an Kaiphas' Stelle?

Kaiphas war es ernst. Dieser Jesus, dieser Wanderprediger und Wunderheiler aus Nazareth, der wollte Gottes Sohn sein? Der Richter der Welt? Gott selbst? Wer kann das glauben? Diese Vorstellung zerstört sein Bild, das er sich von Gott gemacht hat. Und Kaiphas war ja nicht irgendjemand. Er war Theologe! Er hatte eine klare, theologisch fundierte und verantwortete Meinung. Aber er macht sich selbst zum Maßstab dafür wie Gott zu sein hat und zeigt durch das Zerreißen seiner Kleider doch, wie weit entfernt er ist. Er sucht Gott an Jesus vorbei!

Und erlebe ich das nicht auch heute noch, dass ich mir selbst feste Vorstellungen von Gott mache, wie er sein müsste und wie er sein sollte? „Gott, ich schaue auf diese Welt, die doch so zerbrechlich ist. Eine Welt, die von einem winzigen Virus vollkommen in Beschlag genommen werden kann. Oder da sterben Menschen in Kriegen, da herrscht Chaos in so manchem Leben. Da stehe ich wie vor einer Wand… und du? Machst überhaupt nichts. Du kannst mir eh nicht helfen. Das merke ich doch deutlich!“

Oder: Da merke ich vielleicht nicht an Kleidungsstücken, aber in zwischenmenschlichen Beziehungen, in Gesprächen, dass etwas zerreißt und kaputt geht. Dass ich nicht gerne den längeren Atem habe und die Arbeit nicht auf mich nehmen möchte, anderen hinterherzugehen, wo ein böses Wort gefallen ist. Wo ich eben nicht die Nächstenliebe walten lasse, sondern mich und meine Ansichten zum Maßstab für andere setze. Und wer dem nicht folgt, der wird links liegen gelassen! Oder ich spreche insgeheim über ihn das Urteil: Der ist für mich erledigt!

Die eingefahrene und festgemauerte Vorstellung von Gott, die Kaiphas jedenfalls hat, und sich selbst zum Maßstab für andere zu setzen, das führt ihn in die Irre. Das ist sein Fehler. Da begegnet ihm Gott mit einem menschlichen Gesicht – und Kaiphas erkennt ihn nicht.

Gott zeigt sich anders als man vermutet. Er kennt auch unsere selbstgezimmerten Gottesbilder, die wir uns von ihm machen. Er kennt diese Gedanken, wo wir gerne wie Kaiphas, Gott selbst, den Richter der Welt, auf die Anklagebank setzen mit unseren Vorstellungen. Er sieht auch, wo wir so manches Mal mit voller Absicht es an Liebe fehlen lassen und wir Dinge zerreißen.

Doch er wehrt sich nicht dagegen. Der Richter der Welt lässt sich von der Welt richten. Er nimmt ihr Todesurteil entgegen, obwohl er selbst der Richter ist. Warum? Weil auch ihm etwas zerreißt: Und zwar sein Herz. Gott zerreißt nicht seine Kleider vor Wut, sondern er zerreißt sein Herz aus lauter Liebe und Barmherzigkeit. Deshalb schickt er seinen geliebten Sohn, der für unsere Schuld und für unsere falschen Gottesbilder den schweren Leidensweg ans Kreuz von Golgatha geht zur Vergebung unserer Sünden. Da erkennen wir wie Gott wirklich ist – in Jesus Christus! In seiner unendlichen Güte, in seiner unendlichen Geduld mit uns.

Der Evangelist Markus lädt uns heute Abend neu dazu ein, mit unseren Gottesvorstellungen und Maßstäben dorthin zu schauen, wo wir Gottes wahres Gesicht sehen können: Am Kreuz von Golgatha. Da zeigt er uns Gott in Jesus Christus, wie er ist. Da zeigt er uns, welchen Maßstab Gott an unser Leben legt, in dem wir so vieles zerreißen und kaputt machen: Es ist seine Einladung zur Vergebung und Versöhnung!

Jesus bezeichnet sich als Sohn des Hochgelobten, als Menschensohn. Und ja, dieser leidende und gefolterte Gott bleibt auch in seiner Schwachheit derjenige, der am Ende das letzte Gericht halten und das letzte Urteil sprechen wird. Aber im Vertrauen auf Jesus wird es kein niederreißendes Urteil sein, sondern der heilende und erlösende Freispruch.

Wenn etwas zerreißt oder kaputt geht, sind das meistens unangenehme und ärgerliche Momente, die man gerne vermeiden möchte. Jesus aber danke ich, dass ER sein Herz zerreißt, damit Rettung und Vergebung möglich ist. Wie gut, dass er auch das heilt, was wir kaputt machen. Amen.

 

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