Liedpredigt: ELKG 61


PFARRER ANDREAS REHR



Liedpredigt zum Choral „Wenn meine Sünde mich kränken” (ELKG 61)

Von Peter Brunner, einem der bedeutendsten lutherischen Theologen des vorigen Jahrhunderts, stammt folgendes Zitat: „Die Vergebung der Sünden in Gottes Gericht, das ist der Existenzgrund der Kirche Gottes und zugleich der innerste Herzgrund unseres evangelischen Glaubens. Vergebung der Sünden in Gottes Gericht, das ist die letzte Wirklichkeit, um die es im Evangelium von Jesus Christus geht, aber auch die letzte Wirklichkeit, um die es in unserem zeitlichen irdischen Leben geht.” Und weiter: „Sollte die Frage nach der Vergebung in der evangelischen Kirche nicht mehr die Hauptfrage sein, dann hätte die Kirche ihren reformatorischen und biblischen Wurzelgrund verloren.” Soweit das Zitat von Peter Brunner.

Mir scheint, diese Worte sind heute mindestens so aktuell (wenn nicht aktueller) wie 1961, als sie verfasst wurden, denn es lässt sich schon beobachten, dass tatsächlich mehr und mehr andere Fragen diese zentrale Frage aus der Mitte rücken. Was Brunner anspricht, war in der Reformation jedenfalls unbestritten. Die Frage nach der Vergebung der Sünden und der Rechtfertigung des Sünders war die Frage, mit der für Martin Luther die Kirche steht und fällt. Darum braucht es uns nicht zu wundern, dass die meisten Lieder aus der Reformation und der folgenden Zeit der lutherischen Orthodoxie um diesen Themenkomplex kreisen. So auch das Lied, das wir heute betrachten wollen, ELKG 61.

1 Wenn meine Sünd' mich kränken, o mein Herr Jesu Christ, so lass mich wohl bedenken, wie du gestorben bist und alle meine Schuldenlast am Stamm des heilgen Kreuzes auf dich genommen hast.

2 O Wunder ohne Maßen, wenn mans betrachtet recht: es hat sich martern lassen der Herr für seinen Knecht; es hat sich selbst der wahre Gott für mich verlornen Menschen gegeben in den Tod.

3 Was kann mir denn nun schaden der Sünden große Zahl? Ich bin bei Gott in Gnaden, die Schuld ist all zumal bezahlt durch Christi teures Blut, dass ich nicht mehr darf fürchten der Hölle Qual und Glut.

4 Drum sag ich dir von Herzen jetzt und mein Leben lang für deine Pein und Schmerzen, o Jesu, Lob und Dank, für deine Not und Angstgeschrei, für dein unschuldig Sterben, für deine Lieb und Treu.
Als Justus Gesenius dieses Lied dichtete, war er Oberhofprediger und Bischof in Hannover. Sein Choral unterscheidet sich von anderen Passionschorälen schon in der ersten Zeile. Paul Gerhardt etwa hatte die ganze Welt gleich unter das Kreuz gerufen: „O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben.” Die meisten Passionslieder verkündigen schlicht das Leiden und Sterben Jesu und seine Bedeutung für uns. „O Haupt voll Blut und Wunden”, „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld” oder „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“ Unser heutiges Lied setzt anders ein: „Wenn meine Sünd mich kränken, o mein Herr Jesu Christ.” Dieses Lied ist nicht bei schönem Wetter und abgeschieden vom täglichen Leben am sogenannten grünen Tisch verfasst. Hier singt ein Angefochtener. Hier singt jemand, der in Not ist und darum weiß, dass ein Christenleben nicht bloß eitel Sonnenschein ist. Hier sing jemand, der vielmehr immer wieder auch Zeiten durchmacht, in denen jede Heilsgewissheit verschwunden zu sein scheint. Und dann kommen die längst vergessenen und vergebenden Sünden wieder ans Licht und klagen mich an. Oft können gerade ältere Christen davon erzählen. Der Versucher lässt ja besonders im letzten Lebensabschnitt nicht locker, weil er weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat, uns im Trost des Evangeliums, im Trost der Vergebung der Sünden irre zu machen. In solcher Anfechtung also ist das Lied gedichtet, oder besser - gebetet, weil man es nötig hat, immer wieder zu solcher Erkenntnis geführt zu werden: „Wenn meine Sünd mich kränken, o mein Herr Jesu Christ, so lass mich wohl bedenken, wie du gestorben bist und alle meine Schuldenlast am Stamm des heilgen Kreuzes für mich getragen hast.”

In solcher betenden Meditation des heiligen Kreuzes wird Anfechtung vertrieben und Sünde kraftlos. Davon singen die Strophen 2-3. Die Anfechtung wird vertrieben, weil wir das Wunder ohne Maßen erkennen, dass Jesus Christus, der wahre Gott, für uns Sünder am Kreuz hängt und gestorben ist. Die Sünde wird kraftlos, weil die Schuld unserer Sünde durch das Blut Christi bezahlt ist. Sünde und Hölle haben ihren Anspruch gegen uns verloren. Es gibt keine offene Rechnung mehr, mit der sie uns anklagen könnten. Und daraus folgt: Anfechtung ist nicht nur nicht mehr nötig, sondern vom Kreuz Christi her geradezu verboten. “Ich darf nicht mehr fürchten der Hölle Qual und Glut.”

Wer so das Kreuz meditiert, hat allen Grund in die vierte Strophe einzustimmen: “Drum sag ich dir von Herzen jetzt und mein Leben lang, o Jesu, Lob und Dank.” Unter dem Kreuz und im Blick auf die Passion Jesu ein ganzes Leben lang danken - ob wir das lernen können? Ob wir so die Vergebung schätzen lernen, lieber Mitchrist? Jede Beichte, jedes Abendmahl, jeden Gottesdienst? Am Kreuz ist nicht irgendwas geschehen. In Christi Tod ist die positive Entscheidung über unser Leben gefallen. Gott sei Dank!

5 Herr, lass dein heilig Leiden mich reizen für und für, mit allem Ernst zu meiden die sündliche Begier, dass mir nie komme aus dem Sinn, wie viel es dich gekostet, dass ich erlöset bin.

6 Mein Kreuz und meine Plagen, sollt's auch sein Schmach und Spott, hilf mir geduldig tragen, gib, o mein Herr und Gott, dass ich verleugne diese Welt und folge dem Exempel, das du mir vorgestellt.

7 Lass mich an andern üben, was du an mir getan, und meinen Nächsten lieben, gern dienen jedermann ohn Eigennutz und Heuchlerschein und, wie du mir erwiesen, aus reiner Lieb allein.

Die Folge des - wie Gesenius es nennt – „Wunder(s) ohne Maßen” ist aber nicht nur Dank. Es soll seine Auswirkungen bekommen auf mein persönliches Leben. Auffallend ist auch hier: Der Sänger stellt sich nicht hin und verkündet lautstark: ‚Von jetzt an meide ich die Sünde. Jetzt wird alles besser.‘ Nein, viel vorsichtiger wird es auch hier erbeten: “Herr, lass dein heilig Leiden mich reizen für und für, mit allem Ernst zu meiden die sündige Begier.” Ja, der Dichter weiß: Die Begierde bleibt. Die Sünde stellt bis zu meinem Tod eine Versuchung dar. Ich will wohl nicht mehr sündigen. Der Geist ist ganz willig. Aber doch bleibt das Fleisch schwach. In diesem Kampf komme mir nie aus dem Sinn, „wie viel es dich gekostes, dass ich erlöset bin.” Ich bin angewiesen auf die Kraft des Erlösers, wenn mein Leben tatsächlich gelingen soll.

Die Strophe 6 spricht davon, „dass ich verleugne diese Welt“. Was ist damit gemeint? Muss ich als Christ mit frommen Scheuklappen durchs Leben gehen, am besten gleich ganz verkrochen irgendwo hinter dicken Klostermauern? Wir müssen dieses Verleugnen vom ersten Gebot her verstehen. Christusnachfolge ist Totalnachfolge. Das geht nicht nur ein bisschen. Ich bin nicht ein bisschen Christ. Ganz oder gar nicht. Die Alternative lautet aber nicht: Scheuklappen oder nicht, sondern Christus oder nicht. Stehe ich in seiner Spur, ist er mein Weg, dann ist alles andere im Vergleich dazu unwichtig und bestenfalls zweitrangig. Christus setzt die Maßstäbe für mein Leben, das dann an dem Ort und in dem Umfeld gestaltet und gelebt werden will, in dem wir zuhause sind. Nur in diesem Sinne - im Vergleich zu Christus - verleugne ich die Welt, die ja durchaus sonst auch liebens- und lebenswert ist.

Die Strophe 7 setzt mein Leben in Beziehung zum Nächsten. Auch hier wieder: Gebet. „Lass mich an andern üben, was du an mir getan.” Unter normalen Umständen ist es unmöglich, wie Christus zu lieben, so viel wir es uns auch vornehmen. Ohne die Vergebung Christi, von der wir jeden Tag, ja jede Stunde und Minute leben, wäre es vermessen und töricht, von solcher Liebe zu sprechen. Aber das maßlose Wunder des Kreuzes will seine wunderbaren Möglichkeiten auch bei uns durchsetzen. Es kann Eigennutz und Heuchlerschein tatsächlich vertreiben und reine Liebe entzünden, mit der wir ja zuerst selbst geliebt sind.

Die letzte Strophe, mit der wir diese Predigt abschließen, knüpft wieder an die erste an. Es war die Anfechtung der Sünde, unter der Justus Gesenius diesen Choral gedichtet hat. Nun unterstreicht er noch einmal ganz dick: Der Trost der Vergebung, der Trost der Wunden Christi nimmt die Anfechtung und ist unser Halt im Leben und noch mehr im Sterben. Wir selbst haben nichts - am allerwenigsten in unserer „letzten Stunde”. Christus aber hat uns alles verdient. Er bringt uns zur Ruhe. Und er schenkt die Gewissheit des ewigen Lebens. Amen.

8 Lass endlich deine Wunden mich trösten kräftiglich in meiner letzten Stunden und des versichern mich: weil ich auf dein Verdienst nur trau, du werdest mich annehmen, dass ich dich ewig schau.


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