Predigt: Johannes 19,18


PFARRER i.R. MATTHIAS KRIESER



Jesus in der Mitte



Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Auf unzähligen Bildern ist es zu sehen und in allen szenischen Dar­stellungen der Passion Christi kann man es nach­erleben: Jesus wurde mitten zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt. So haben es uns die Evange­listen über­liefert, und so ist es auch wirklich geschehen: „Sie kreuzigten ihn, und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.“ Das ist keineswegs ein belangloser Zufall, sondern das ist bedeutsam. Wir stellen ja immer wieder fest: Was Gott in seiner Heils­geschichte gefügt hat und was uns in der Bibel überliefert ist, das hat eine Bedeutung beziehungs­weise eine göttliche Botschaft. Manchmal sind es scheinbar nur Neben­sächlich­keiten – so wie die Tatsache, dass Jesus in der Mitte zwischen zwei Verbrechern hin­gerichtet wurde. Was aber ist nun die Bedeutung davon, was ist die göttliche Botschaft? Vier Dinge sind es, die wir vom Gesamt­zeugnis der Bibel her daran ablesen können. Erstens: Christus wurde ein Mensch; zweitens: Christus wurde den Sündern zu­gerechnet; drittens: Christus erfüllte die Schrift; viertens: an Christus scheiden sich die Geister.

Erstens: Christus wurde ein Mensch. Der Gottessohn kam vom Himmel herab und lebte mitten unter uns Menschen. Schließlich starb er auch mitten unter uns Menschen – das zeigt uns sein Kreuz mitten zwischen den beiden anderen Gekreuzigten. Das ist ja ein ganz wichtiger Gesichts­punkt von Gottes Heils­handeln: Christus schwebte nicht hoch über uns, als er uns erlöste, er half auch nicht mit Abstand aus der Ferne, sondern er lebte und litt mitten unter uns. Der Evangelist Johannes hat das bereits gleich am Anfang seines Evangeliums betont, im Ein­leitungs­teil, im sogenannten Prolog. Da lesen wir von Christus: „Das Wort ward Fleisch und wohnte mitten unter uns“ (Joh. 1,14). Dasselbe, was Johannes vom Anfang des Menschen­lebens unseres Herrn geschrieben hat, das hat er hier von seinem Sterben ge­schrieben: „… Jesus aber in der Mitte.“ Und dasselbe gilt noch heute, nach seiner Himmel­fahrt, denn er hat ja ver­sprochen: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20). So wie Jesus damals zwischen den beiden Verbrechern am Kreuz hing, so ist er auch heute hier mitten unter uns durch seinen Geist.

Zweitens: Christus wurde den Sündern zu­gerechnet. Es besteht kein Zweifel darüber, dass seine beiden Mit­gekreuzig­ten Verbrecher waren. Ihre Sünde war für alle offen­sicht­lich. Und weil die Todesstrafe als Sühne für schwere Vergehen damals noch un­bestritten war, war man sich einig: Sie empfingen das, was ihre Taten wert waren. Der qualvolle Tod am Kreuz war die gerechte Vergeltung für die Qualen, die diese Übeltäter ihrerseits anderen angetan hatten. Mitten zwischen zwei solchen Sündern wurde nun Jesus gekreuzigt. Da drängt es sich fast auf zu sagen: Er wurde als Sünder unter Sündern hin­gerichtet. Wir wissen aber, dass Jesus selbst gar kein Sünder war. Im Gegenteil: Keinem Menschen ist es jemals so wie ihm gelungen, den Erwartungen des himmlischen Vaters gerecht zu werden. Im Hebräer­brief heißt es von ihm: „Er ist in allem versucht worden wie wir, doch ohne Sünde“ (Hebr. 4,15). Und doch wurde er am Kreuz inmitten von Sündern gewisser­maßen selbst zum Sünder – nicht wie einer, der Sünde getan hat, aber wie einer, der als Sünder bestraft wurde. Auch dies macht die Heilige Schrift un­missver­ständ­lich klar. Bereits zu alt­testament­licher Zeit hat der Prophet Jesaja geweissagt: „Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zer­schlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes. 53,5) Und der Apostel Paulus bezeugte von ihm: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“ (2. Kor. 5,21). Dass Christus sich inmitten von offen­sichtlichen Sündern wie ein Sünder kreuzigen ließ, zeigt seine Solidarität mit allen Sündern, sowohl den offen­sichtlichen als auch den heimlichen. Und es ist mehr als Solidari­tät: Auf diese Weise hat Christus den Fluch der Sünde für alle Menschen überwunden.

Drittens: Christus erfüllte die Schrift. Dass er am Kreuz für uns den Fluch der Sünde trug, das ist schon im Gesetz des Mose voraus­gesagt worden, wo es heißt: „Ein Auf­gehängter ist verflucht bei Gott“ (5. Mose 21,23). Aber auch die Tatsache, dass Jesus sein irdisches Leben in der Mitte von Sündern beendete, ist im Alten Testament voraus­gesagt. Wieder ist es der Prophet Jesaja, der weissagte: „Er ist den Übeltätern gleich gerechnet und hat die Sünde der Vielen getragen“ (Jes. 53,12). Jesus selbst hat seinen Jüngern dieses Schriftwort auf seinen Tod hin gedeutet, als er mit ihnen am Abend vorher beisammen war und das Heilige Abendmahl feierte. Und auch wenn die Über­lieferung nicht ganz sicher ist, können wir doch annehmen: Der Evangelist Markus hat diese Weissagung aus­drücklich darauf bezogen, dass Jesus in der Mitte zwischen zwei Übeltätern gekreuzigt wurde. Jesaja hat diese Erkenntnis noch weiter ausgezogen bis hin zu Jesu Grablegung und prophezeit: „Man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern“ (Jes. 53,9). Diese Weis­sagungen hat Gott gewirkt, damit wir im Glauben gewiss werden. Wir merken daran nämlich: Dass Jesus Mensch unter Menschen war und dass er sich wie ein Sünder unter Sündern mit dem Tod bestrafen ließ, das entspricht Gottes Heilswillen für uns von Anfang an.

Viertens: An Christus scheiden sich die Geister. Bis hierher haben wir die drei Kreuze auf Golgatha wie eine Symmetrie betrachtet: Rechts und linke die beiden Verbrecher, die um wirklich begangener schwerer Sünde willen mit dem Tod bestraft werden, und in der Mitte der sündlose Gottessohn, der stell­vetretend für alle Menschen das Sünder­schicksal erleidet. Durch den Evange­listen Lukas wissen wir aber, dass diese Symmetrie nur ober­flächlich stimmt. Wir erfahren, dass einer der beiden Verbrecher am Kreuz einstimmte in den Chor derer, die Jesus lästerteten und ver­spotteten; der andere aber wies ihn zurecht. Dieser andere Verbrecher hatte erkannt, dass Jesus hier unschuldig litt und starb. Mehr noch: Er hatte erkannt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, der Menschen aus Tod und Verdammnis erretten kann. Darum wandte sich dieser zweite Verbrecher in seiner letzten schweren Stunde hilfe­suchend an Jesus und flehte ihn an: „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ (Lukas 23,42). Wir wissen, dass er nicht vergeblich gebeten hat. Jesus versprach ihm einen Platz im Paradies – durch die Auf­erstehung zum ewigen Leben. So können wir am Beispiel der beiden Mit­gekreuzig­ten erkennen, wie sich an Jesus die Geister scheiden. Jesus, in ihrer Mitte gekreuzigt, stand auch geistlich zwischen den beiden: Der eine lehnte ihn ab, der andere suchte seine Hilfe. So scheiden sich an Jesus die Geister aller Menschen. Wer Jesus begegnet, wird ihn entweder ablehnen oder ihn um Hilfe bitten. Wer ihn aber um Hilfe bittet, der wird dieselbe beglückende Erfahrung machen wie der zweite Mit­gekreuzig­te: Jesus verspricht ihm das ewige Leben. Und ich bin gewiss: Jesus wird dieses Versprechen auch halten.

Christus wurde Mensch, Christus wurde den Sündern zu­gerechnet, Christus erfüllte die Schrift, und an Christus scheiden sich die Geister – das alles lehrt uns die Tatsache, dass Jesus in der Mitte von zwei Übeltätern gekreuzigt wurde. Wir sehen nun, dass auch diese scheinbar un­bedeutende Tatsache für uns überaus tröstlich und heil­bringend ist. Amen.



Quelle: www.predigtkasten.de

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